Leena Krohn
                  
                     P e r e a t  m u n d u s


                           - Auszüge -







Helsinki, W. Söderström 1998, 302 S.
Auszüge: S.  70-75, S. 193-198
Aus d. Finn. v. Peter Uhlmann

                      

Der Kundenberater

"Kryotherapie. Guten Tag, was kann ich für Sie tun?" Håkan sagte das an diesem Vormittag schon zum zwölften Mal am Telefon. Anscheinend konnte er immer noch nicht Mittagspause machen.
   Der Firma ging es zur Zeit gut. Nach der langen Krise war der wirtschaftliche Aufschwung gekommen. Im Jahrzehnt davor hatten nur wenige Menschen Geld in ihre eigene Unsterblichkeit investieren können.
   Håkan arbeitete in einer Filiale der Kryo-Stiftung. Seine Aufgabe bestand darin, die Kunden am Telefon oder per E-Mail zu beraten und Unschlüssige von den Vorteilen dieser Investition in die eigene Zukunft zu überzeugen. Schließlich hatt e kein einziger Kunde eine Zukunft ohne Alter, Krankheit, Tod und Grab.
   Doch das Alter, so erklärte Håkan, sei eine Krankheit, an der man bald nicht mehr sterben müsse. Und auch das Grab könne man mit bestimmten Maßnahmen umgehen. Natürlich würde das etwas kosten, und nicht gerade wenig.
   In der Kryo-Stiftung wurden die Begriffe Tod und Verstorbener kaum erwähnt. Für Verstorbene gab es die Bestattungsinstitute und den Friedhof, die Kryo-Stiftung hatte nur Investoren. Tag für Tag informierte Håkan potentielle Investoren üb er die Details der Biokonservierung und des Kryospan-Programms und deren Kosten.
   Die Investoren waren in zwei Gruppen eingeteilt worden: die Neuroinvestoren, bei denen nur der Kopf konserviert wurde, und die Ganzkörperinvestoren. Das Behandlungsprogramm, die Biokonservierung und alle vorherigen, komplizierten Maßnahm en kosteten bei Neuroinvestoren 105 000 Mark, bei Ganzkörperinvestoren 228 500 Mark.
   Gegenüber den Kunden, die anfragten, betonte Håkan, daß sie absolut in Sicherheit wären, wenn sie das Kryoprogramm für sich oder ihre Angehörigen wählten. Oder fast absolut, fügte er hinzu. Im Labor der Stiftung wurden die Körper auf so niedrige Temperaturen eingefroren, daß sie nicht mehr verfaulen oder verwesen konnten. In Behältern aus Stahlbeton, die gegen Erdbeben, Stürme, Feuer, Überschwemmungen und Vandalismus gesichert waren, durften die Investoren dann darauf warten, geweckt zu werden.
   Håkan erklärte, daß man den Behandlungsprozeß schon vor dem Augenblick des klinischen Todes, an der Schwelle zum Exitus, beginnen muß. Die Schäden durch den Sauerstoffmangel werden vermieden, indem man mit Barbituraten wie z.B. Nembutali l den Stoffwechsel des Hirns minimiert.
   Der Körper wird möglichst schnell auf knapp über 0° C abgekühlt. Das Blut ersetzt man durch andere Stoffe, die das Bakterienwachstum verhindern. Danach folgt das langsamere Einfrieren auf die Temperatur von flüssigem Stickstoff. Der biol ogische Zustand einer so eingefrorenen Person verändert sich nicht mehr, wenn sie sachgemäß gelagert wird.
   Håkan unterstrich gegenüber den potentiellen Investoren, daß die Entscheidung für den Kryoprozeß eine rationale Alternative darstelle. "Eine absolute Erfolgsgarantie kann man nicht geben. Doch wenn wir diese freilich, wie manche mei nen, noch unzulängliche Möglichkeit nicht ergreifen - was bleibt uns dann?"
   Die absolute Gewißheit des Todes.
   Zusätzlich zur Kundenberatung mußte Håkan jede Woche ein paarmal die Aufgaben im Kontrollraum übernehmen, also die Meßgeräte ablesen, die Werte der Kunden kontrollieren und dafür sorgen, daß in den Stahlkammern alles in Ordnung war. In d er Abteilung der Neuropatienten fühlte sich Håkan immer ein wenig unwohl, dagegen konnte er nichts tun. Er fand es gar nicht angenehm, dort Dienst zu haben. All diese bleichen, abgetrennten Köpfe ...
   Wenn er an ihnen vorüberging, hatte er manchmal das Gefühl, daß sie ihn mit ihren halb geschlossenen Augen beobachteten und versuchten mit ihren blutleeren Lippen Worte zu formen, vielleicht eine Bitte.
   Doch im großen und ganzen war Håkan mit seinem Arbeitsplatz und dem ziemlich guten Verdienst zufrieden. In der letzten Zeit tauchten allerdings Kunden auf, die anspruchsvoller und mißtrauischer waren als früher. Es gab sogar Leute, die e ine Garantie für den Fall des Weltuntergangs verlangten.
   Auch an diesem Vormittag hatte Håkan eine schwierige Kundin, Frau Sona, die künftige Witwe des Technologiegurus. Bei ihrem Mann war eine Krankheit festgestellt worden, die den Körper auszehrte und wahrscheinlich in Kürze zum Tode führen würde. Die beiden hatten beschlossen, rechtzeitig Kontakt zur Kryo-Stiftung aufzunehmen. Falls der Vertrag über die Behandlung des Mannes sie zufriedenstellte, hatte die Ehefrau zugesagt, gleichfalls Kundin zu werden - dann wenn ihre Zeit gekommen war.
Die Dame hatte eine Menge Fragen, doch Håkan brachte viel Geduld auf, denn die Kryo-Stiftung hatte allen Grund, so zahlungskräftige Kunden zu halten.
   "Wie können wir sicher sein, daß mein Mann nach dem Wecken dieselbe Person ist wie vorher?" fragte sie.
   "Wir wissen schon das eine oder andere über die Kryobiologie und die Wirkung niedriger Temperaturen auf organische Systeme", referierte Håkan. Er beherrschte sein Thema, vor Beginn der Arbeit als Kundenberater hatte er einen dr eimonatigen Kurs und einen Test absolvieren müssen.
   "Bei supergekühlten Kleintieren endet jede Hirnaktivität, aber sobald ihre Körpertemperatur erhöht wird, leben sie dennoch wieder auf, und ihr Gedächtnis kehrt zurück. Wenn das Gehirn ihres Mannes reaktiviert wird, kehrt auch sein G edächtnis zurück, davon können Sie überzeugt sein. Eine andere Sache wäre es natürlich, wenn er beispielsweise an Alzheimer leiden würde. Es ist extrem schwierig, verlorene Informationen wiederherzustellen. In solchen Fällen empfehlen wir einen möglichst schnellen Beginn der Behandlung. Aber wenn es sich um eine Krankheit handelt, die das Gedächtnis nicht beeinflußt, ist es besser, möglichst lange zu warten, weil sich die Kryotechnologie ja weiterentwickelt."
   "Und wie ist es denn mit den Kometen?" fragte die Dame.
   "Wie bitte?"
   "Na die Kometen, die Schweifsterne, Sie wissen doch, was über die gesagt wird. Daß vom ganzen Menschengeschlecht nur ein nasser Fleck übrigbleibt, wenn einer, der groß genug ist, die Erde trifft."
   "Ja", sagte Håkan, "das wäre sehr bedauerlich. Dagegen könnte auch die Kryo-Stiftung nichts tun. Aber es ist natürlich möglich, daß die Betonkammern der Kryo-Stiftung alles überstehen. Davon würde ich jedenfalls ausgehen. Ja, da bin ich mir ganz sicher", fügte Håkan hinzu, als ihm einfiel, daß er immer die Interessen der Stiftung zu vertreten hatte.
   "Jaja", sagte die Dame. "aber wenn niemand am Leben bleibt, der uns wecken könnte?"
   "Es ist ja immer denkbar, daß Reste der Menschheit überleben und mit ihnen auch das Wissen von heute."
   Die Dame schwieg und dachte über die Antwort nach. Håkan glaubte schon, er könne nun Mittag essen gehen.
   Doch ihr fiel noch eine Frage ein: "Und wenn nun Spezies auftauchen, die intelligenter sind als der Mensch und Ihre Kunden nur wecken, um sie zu ihren Sklaven zu machen?"     
   "Oh, oh, gnädige Frau", sagte Håkan. "Halten Sie das für wahrscheinlich?"
   "Warum denn nicht? Und wenn ein Kunde nun überhaupt nicht auferstehen will? Wenn er aufwacht und total in Panik gerät?"
    "Dann können wir rasch wirkende Beruhigungsmittel und eine intensive Therapie anwenden", erklärte Håkan.
   "Und wenn er nach dem Aufwachen bemerkt, wie unangenehm die Welt geworden ist, so daß er überhaupt nicht da leben will? Wenn er nun die nächsten hundert oder dreihundert Jahre weiter schlafen und dann sein Glück noch mal versuchen m öchte?"
   "In dem Fall, gnädige Frau, müßte er natürlich noch mal bezahlen", antwortete Håkan. "Bedauerlicherweise."
   "Ist das denn nicht ein wenig unangemessen?" erwiderte sie. "Bei diesen Preisen könnte die Kryo-Stiftung nun wirklich ein Extra-Schläfchen finanzieren."
   "Gnädige Frau, wir können natürlich nicht für alles Mögliche eine Garantie übernehmen", erklärte Håkan. "Sie werden doch verstehen, daß kein Unternehmen auf absolut alles eingerichtet sein kann."
   "Bei diesen Preisen sollten Sie es können", antwortete sie.
   "Die Unsterblichkeit hat ihren Preis", sagte Håkan. "Das ist wahr. Aber andererseits: Welches Gut könnte wertvoller sein?"
   Das machte die Dame schließlich doch sprachlos.   
   "Wie ist es? Schließen wir einen Vertrag ab?" erkundigte sich Håkan. Er stellte sich schon vor, wie der Hamburger mit Speck schmeckte.













Der Mann mit 21 Gesichtern

Der Psychiater Keinolemmi hatte einen neuen Patienten, einen Nikotinisten, der das Pseudonym "Kettenraucher" benutzte und ihm mitteilte, er wolle endlich vom Rauchen loskommen. Nach dem Austausch einiger E-Mail-Nachrichten, in denen Keinolemmi i hm routinemäßig die gleichen Ratschläge gegeben hatte wie anderen von der Nikotinsucht besessenen Patienten, begann Kettenraucher plötzlich, die allgemeine weltpolitische Lage zu analysieren. Er charakterisierte die nahe Zukunft als äußerst unangenehm, pr ophezeite den abrupten Zusammenbruch der liberalistischen Marktwirtschaft und warnte, es sei bereits fünf vor zwölf. Einige seiner Formulierungen ließen Keinolemmi mißtrauisch werden. Sie kamen ihm nur allzu bekannt vor.
   "Es ist doch sehr bezeichnend für unsere Zeit", schrieb Kettenraucher, "daß es auch in unserer Stadt schon Sauerstoffbars gibt und daß wir die Luft, die wir atmen, bald kaufen müssen. In Kürze werden sich das nur die Reich en leisten können, und es wird die Zeit kommen, da wir das einfache Grundrecht zu atmen mit keinem Geld der Welt mehr einlösen können."
   "Sie als Raucher", antwortete Keinolemmi, "bekämen mühelos und sogar völlig kostenlos mehr frische Luft, wenn Sie ihre überflüssige und teure Gewohnheit aufgeben würden. Solange das nicht geschieht, ist Ihr Lamentieren übe r die Luftverschmutzung unangebracht. Ich überlege außerdem, ob Sie möglicherweise früher schon einmal Kunde bei mir waren?"   
   Der Mann ignorierte die Frage und fuhr fort: "Es ist offensichtlich, daß sich die Qualität des Spermas der Männer in den letzten Jahren weltweit verschlechtert hat. Grund dafür dürften giftige Verbindungen wie die Phthalate, die pol ychlorierten Dibenzodioxine und die organischen Zinnverbindungen sein. Wenn sie in den menschlichen Körper gelangen, verhalten sie sich wie Hormone. Das wird in Kürze die totale Unfruchtbarkeit und das Aussterben des Menschengeschlechts zur Folge haben.&q uot;
   "Lieber Kettenraucher alias Håkan", antwortete Keinolemmi. "Es ist offensichtlich, daß wir uns früher schon begegnet sind. Der Kontakt zu Ihnen als Kunde wird auch diesmal nicht von langer Dauer sein. Ich habe Ihnen bereit s einmal mitgeteilt, daß ich die Verantwortung für Ihre Behandlung nicht mehr übernehmen will und auch nicht kann."
   Danach hörte er nichts mehr vom Kettenraucher.
   Doch im Mai, kurz bevor sich Keinolemmi in den Urlaub zurückziehen wollte, meldete sich ein Pseudonym "Inflation des Universums".
   "Sind Sie sich dessen bewußt", schrieb Inflation des Universums, "daß Sie als Therapeut die Pflicht haben, mit Ihren Patienten ernsthaft über die Zukunft zu sprechen. Die Menschen müssen Zeit haben, sich auf die unmittelba r bevorstehenden Umwälzungen vorzubereiten."
   Keinolemmi ahnte, was da kommen würde. Nach der nächsten Nachricht wußte er es. Inflation des Universums hatte geschrieben:
   "Selbst ganz minimale Veränderungen in der Masse der superschweren Elementarteilchen können radikale Auswirkungen haben. Jede Materie kann dadurch extrem radioaktiv werden. Auch die Menschen, da besteht kein Zweifel. Die ganze Kette des Lebens ist vom Gigatod bedroht."
   "Ich bin der festen Überzeugung, daß Sie mir nicht das erste Mal schreiben. Haben Sie möglicherweise bei einer früheren Kontaktaufnahme das Pseudonym Håkan verwendet? Und Kettenraucher?" erkundigte sich Keinolemmi.
   Der Mann ignorierte die Frage vollkommen kaltblütig und variierte das Thema, das Keinolemmi schon so vertraut war:
   "Es kann passieren, daß wir uns in Kürze sozusagen in einem falschen Vakuum befinden. Schon allein der Gedanke ist schrecklich. Das Weltall, in dem wir leben, kann plötzlich verschwinden, falls sich ein wirkliches, blasenförmiges Va kuum bildet. Diese Blase vermag sich fast mit Lichtgeschwindigkeit auszudehnen, sie perforiert unsere Galaxis und rast immer weiter. Dann würden sich alle Lebensbedingungen verändern. Ich rede jetzt von einer extremen ökologischen Katastrophe. Die uns bek annten Gesetze der Chemie und Physik würden nicht mehr gelten. Das Leben, wie wir es kennen, wäre nicht möglich."     
   "Liebe Inflation des Universums alias Kettenraucher alias Håkan", schrieb Keinolemmi. "Ich habe schon jetzt das Gefühl, im falschen Vakuum zu sein. Es kann passieren, daß ich Sie wegen der absichtlichen Störung meiner beru flichen Tätigkeit verklage, wenn Sie mir weiter Ihre Weltuntergangsphantasien aufdrängen. Melden Sie sich nicht mehr bei mir, ansonsten könnten die Folgen für Sie in Bezug auf Ihre finanzielle Zukunft eine extreme Katastrophe sein. Schon allein der Gedank e ist schrecklich!"
   Danach herrschte Ruhe an der Weltuntergangsfront. Bis der "Mann mit 21 Gesichtern" auftauchte.     
   "Ich habe zwanghafte, aufs Essen bezogene Gedanken, die ich loswerden möchte", schrieb ein neuer Kunde. "Ich interessiere mich besonders für Schokolade, für Tafeln und Schokoriegel, Vollmilchschokolade und Zartbitterschoko lade, für Pfefferminzschokolade, Kokosschokolade, Likörpralinen mit Schokoladenüberzug, für wirklich jede Art von Schokolade. Wenn ich in einem Geschäft bin, mache ich gleichsam eine Inventur des Schokoladeangebots, ich untersuche die Verpackungen und das Einwickelpapier. Wissen Sie warum? Ich will erkunden, in welche Verpackung man am leichtesten und möglichst unbemerkt eine Injektionsspritze stechen könnte. Stellen Sie sich das mal vor! Haben Sie schon einen Fall dieser Art gehabt? Ich muß immer wieder daran denken, daß die Dinge, die im Fernen Osten, also weit weg von hier, beinahe passiert wären, auch bei uns passieren können - und zwar ohne Vorwarnung."
   Im Fernen Osten? Was wäre im Osten beinahe passiert und wann? Die Nachricht beunruhigte Keinolemmi sehr, und das Pseudonym war ihm zunächst ein Rätsel.
   "Ich möchte, daß Sie ein wenig genauer über ihre Obsession sprechen", schrieb Keinolemmi. "Ich bin auf verschiedenste Störungen spezialisiert, die mit Lebensmitteln und dem Essen zusammenhängen. Bestimmt finden sich Mittel , Ihnen zu helfen."
   Keinolemmi suchte nach Informationen über den Mann mit 21 Gesichtern. Es stellte sich heraus, daß in Japan eine gleichnamige Terrororganisation existierte, die Schokolade in Geschäften mit Zyanid vergiftet hatte. Allerdings war den Verbr auchern vorher eine Warnung übermittelt worden - man weiß nicht, in wessen Auftrag. Die vergifteten Packungen wurden gefunden und vernichtet, es gab also nur wirtschaftliche Verluste.
   Der Mann mit 21 Gesichtern reagierte nicht auf das Angebot. Er war möglicherweise ein harmloser Fall, aber völlig sicher sein konnte man da nicht. Seine Nachricht war über den Anonymserver gekommen, so daß Keinolemmi keine Möglichkeit ha tte, die richtige E-Mail-Adresse zu ermitteln. Vielleicht hätte Keinolemmi die Angelegenheit den Behörden melden müssen, aber vorher wollte er sich erst noch ein bißchen genauer mit dem Fall beschäftigen.
   "Ich möchte mit Ihnen persönlich reden", schrieb Keinolemmi. "Könnten wir uns schon diese Woche in meiner Praxis treffen?".
   Der Mann mit 21 Gesichtern schwieg beharrlich. Keinolemmi bekam keine Antwort, aber er spürte, wie die Angst in sein Leben kroch.
   Zum einen hatte er den Verdacht, daß auch der Mann mit 21 Gesichtern in Wirklichkeit Håkan war. Und zum anderen aß er sehr gern Schokolade. In der Regel kaufte er nach dem Mittagessen am Kiosk einen Schokoriegel mit Kokosgeschmack. Das r egte an und war magenfreundlicher als eine Tasse Kaffee. Jetzt bemerkte Keinolemmi, wenn er am Kiosk seinen Schokoriegel kaufen wollte, daß er plötzlich zögerte und dann etwas anderes nahm, Salmiakpastillen oder nur die Abendzeitung.
   Eines mußte sich Keinolemmi eingestehen: Wenn er selbst für irgendeine Phobie anfällig war, dann betraf sie gerade das Essen. Er hatte auf gar keinen Fall die Absicht, wegen einer Lebensmittelvergiftung das Zeitliche zu segnen.
   Sein Dickdarm war chronisch entzündet, Keinolemmi litt abwechselnd unter Durchfall oder Verstopfung. Das Datum ‚Mindestens haltbar bis ...' auf Milchkartons und Fertiggerichten nahm er sehr genau. Oft warf er Lebensmittel schon einen Tag vorher in den Müll.
   Keinolemmi roch immer erst an einem geöffneten Milchkarton, bevor er ein wenig Milch in seine Kaffeetasse goß. Er betrachtete Brot sorgfältig von allen Seiten und suchte nach Schimmelflecken, obwohl er genau wußte, daß er es erst am Vort ag gekauft hatte.
   Pilzgerichte aß er nicht gern, Morcheln nie. Am Wasserhahn in der Küche war ein Filter angebracht, der alle schädlichen Restsubstanzen im Wasser zu 99 % zurückhalten sollte.
   Dennoch überraschte sich Keinolemmi manchmal bei dem Gedanken, was für schreckliche Dinge in dem übrig gebliebenen einen Prozent verborgen sein könnten.
   Doch Schokolade hatte er bisher nie in Verdacht gehabt. Jetzt war ihm auch dieser Lebensgenuß genommen worden. Das brachte ihn in Wut, das war teuflisch, aber er konnte sich nicht zwingen, weiter Schokolade zu essen, obwohl ihm das Wasse r im Munde zusammenlief, wenn er im Geschäft die blaue Tafel sah.
   Und geraubt hatte ihm diese bescheidene, unschuldige Sinnesfreude ein gänzlich unbekannter Mann mit 21 Gesichtern oder - was noch schlimmer war - Håkan, dieser unausstehliche Unglücksprophet.